
Wachinger, Burghart: Erzählen für die Gesundheit
Diätetik und Literatur im Mittelalter. Vorgetragen am 25. November 2000. Spätmittelalterliche Gesundheitslehren fügen in ihre Informationen über Speisen und Getränke, Schlaf und Schlaflosigkeit usw. gelegentlich auch den Hinweis ein, dass Erzählungen die Gesundheit von Leib und Seele fördern können. Literaten haben diesen medizinisch-diätetischen Topos benutzt, um insbesondere solche Literatur zu legitimieren, die vor geistlich-moralischen Maßstäben schwer bestehen konnte, d. h. vor allem schwankhaft-anstößige Erzählungen. Im mitteleuropäischen Raum erscheint dieses Begründungsmuster erst wesentlich später als in West- und Südeuropa. Ansätze finden sich immerhin schon zur Zeit der großen Pest im Umkreis Kaiser Karls IV. Um dieselbe Zeit greift in Italien Boccaccio mit der Rahmenerzählung seines 'Dekameron' Empfehlungen der Gesundheitslehren ebenso auf wie die literaturtheoretischen Ansätze zu einer Legitimierung des Witzigen und Gewagten - und reflektiert sie zugleich mit seinen narrativen Mitteln. Die Studie gliedert sich in drei Teile: 1. Die medizinische Tradition; - 2. Zur Aufnahme der diätetischen Empfehlungen im literarischen Diskurs; - 3. Diätetik und Erzählen zu Zeiten der Pest: Boccaccios 'Dekameron'. Die gesundheitsfördernde Wirkung von Literatur war im Spätmittelalter auch von medizinischer Seite anerkannt, freilich weniger zur Heilung somatischer Krankheiten im engeren Sinn als zur vorbeugenden Diätetik und zur Therapie der Melancholie. Der erste Teil dieser Studie handelt deshalb von medizinischen Schriften, die im Rahmen der Diätetik auch der Literatur eine Funktion zuweisen. Der zweite Teil diskutiert, wie weit das Angebot der Diätetik von den mittelalterlichen Literaten aufgegriffen worden ist als Chance, Literatur jenseits der geistlich-moralischen Diskurse zu rechtfertigen. Der dritte Teil zeigt dann, wie ein bedeutender Dichter, Boccaccio, das diätetische Denkmuster aufgegriffen und mit narrativen Mitteln moralphilosophisch durchdrungen hat. 44 Seiten mit 12 Tafeln, broschiert (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Band 23/Universitätsverlag Winter 2001)