
Retsch, Annette: Paratext und Textanfang
Die Formulierung des Textanfangs ist seit jeher eine besondere Herausforderung - doch wo beginnt eigentlich ein Buch? Mit Genettes Begriff des "Paratextes" werden u.a. die Zeichensysteme Titel, Untertitel und Vorwort beschrieben, die bereits Teile des Buchanfangs darstellen und mit dem "eigentlichen Textanfang" kooperieren. Jeder Leser nähert sich einem Buch, indem er zunächst den Titel überfliegt, den Umschlag bzw. das Titelblatt betrachtet, ein möglicherweise vorhandenes Vorwort und den Werkeingang liest. Dies ist ein Prozess, der aufgrund seiner Selbstverständlichkeit nicht weiter auffällt. Das Textkorpus dieser Arbeit greift aus der "Überfülle von Romanen" die repräsentativsten Vertreter der Gattung Bildungsroman heraus. Bei der Analyse des Paratextes ist auch zu berücksichtigen, ob die räumliche, zeitliche, stoffliche und pragmatische Situation eines Paratextelements der Entscheidung des Autors oder zumindest teilweise auch der des Verlegers unterliegt, obwohl sie häufig an einem allgemein üblichen Rahmen orientiert wird: Ein Titel, eine Widmung, ein Vorwort oder ein Interview können mehrere Zwecke gleichzeitig verfolgen, die dem mehr oder weniger offenen Repertoire entnommen werden, das jedem Elementtypus eigen ist. Da Anzahl und Gestaltung der Paratextelemente von Roman zu Roman und von Epoche zu Epoche unterschiedlich sind, werden sie für jeden Untersuchungszeitraum unter folgenden Gesichtspunkten analysiert: 1. Wo tritt ein Paratextelement auf? 2. Wie wird es realisiert, verbal oder nichtverbal? 3. Wer sind die Kommunikationsinstanzen? 4. Wozu ist das Paratextelement nötig, bzw. welche Funktion erfüllt es? - In dieser Untersuchung wird der Paratext nicht als abgeschlossene Anordnung betrachtet, sondern als ein Signal für den "eigentlichen" Textanfang, der mit dem ersten Satz des ersten Kapitels auf einer rechten Buchseite beginnt und von Werk zu Werk unterschiedlich lang sein kann. Der Textanfang ist als der Übergang aus der realen Kommunikationssituation des Autors in die von ihm geschaffene "Textwelt" zu verstehen. Erkennbar ist diese an der Initierung einer bestimmten Kombination von Zeit, Ort und Personen, die es in der realen Welt des Schriftstellers "nicht/noch nicht/nicht mehr" gibt. Diese Konstellation kann aber auch schon durch die Paratextelemente Titel oder Vorwort erfüllt werden, wodurch nicht nur die Bedeutung der Paratextuntersuchung unterstrichen wird, sondern auch die übliche (literaturwissenschaftliche) Auffassung vom Romananfang als "Mikrokosmos des Gesamttextes" eingeschränkt wird. 238 Seiten mit 35 Abb. und 47 Tab., broschiert (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie; Band 18/Königshausen & Neumann 2000) leichte Lagerspuren