Als die Geisteswissenschaften populär waren
Westdeutsche Schreibweisen, Lektürepraktiken, Verlagspolitiken um 1970. Hrsg. von Jörg Döring und Morten Paul. Worauf ist das "goldene Zeitalter" der Geisteswissenschaften in der Bundesrepublik zurückzuführen, das von den 1960er Jahren bis weit in die 1980er andauerte? Ein Effekt der Bildungsexpansion? Eine Folge der gesellschaftskritischen Emphase rund um 1968? Dieser Band erprobt eine weitere Erklärung: Das goldene Zeitalter der Geisteswissenschaften ist das Zeitalter des wissenschaftlichen Taschenbuchs. Publikumsverlage, die geisteswissenschaftliche Texte massenhaft verfügbar machen; Taschenbuchreihen, die es auch Studierenden ermöglichen, Bibliotheken anzulegen; und Autor*innen, die im Bewusstsein dieser Verbreitungsmöglichkeit schreiben: das Geschehen auf dem Taschenbuchmarkt ist Treiber der Expansion der Geisteswissenschaften - und verwandelt sie so radikal. Die Beiträge diskutieren diesen Befund anhand von eminenten Taschenbuchgeschichten - Fälle von Erfolgstiteln, in denen Entstehung und Rezeption mit dem Buchmarktgeschehen in engem Zusammenhang stehen: R. Barthes' "Mythen des Alltags" (Ruth Signer); J. Jacobs' und A. Mitscherlichs Stadtforschungen (Hanna Böge); J. Habermas' "Erkenntnis und Interesse" (Morten Paul); M. Horkheimers "Autoritärer Staat" (Sven Gringmuth); die populäre Rezeption von Wilhelm Reich (Yanara Schmacks) und von Walter Benjamin (Detlef Siegfried); das "Funkkolleg Sprache" (Marius Albers); H. P. Duerrs "Traumzeit" (Rosa Eidelpes) und A. Davis' "Rassismus und Sexismus" (Samira Spatzek). Thematisiert wird aber auch das literarische Leiden an den Geisteswissenschaften in K. Strucks "Klassenliebe" (Fabienne Steeger) und es wird ein Seitenblick auf europäische "Theory" in den amerikanischen Humanities (Gregory Jones-Katz) geworfen. So entsteht ein vielschichtiges Bild diesseits nostalgischer Verklärung, das auch den Blick auf die Gegenwart geisteswissenschaftlichen Publizierens schärft. VI,223 Seiten mit 24 Abb., broschiert (Buchwissenschaftliche Beiträge; Band 103/Harrassowitz Verlag 2025) leichte Lagerspuren












