Die Erschließung des Raumes
Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter. Hrsg. und eingeleitet von Karin Friedrich. 29 deutsch-, 10 englisch- und zwei französischsprachige Beiträge aus der Wissenschafts-, Kultur-, Kunst-, Architektur-, Theater- und Ideen-Geschichte sowie den Literaturwissenschaften und der Musikwissenschaft demonstrieren eine breite Palette über ein großes geographisches Spektrum verteilter konkreter Beispiele, anhand derer Räume und Grenzen der Barockepoche analysiert werden. Die Sozial- und Geisteswissenschaften beschäftigen sich seit einer ganzen Weile mit Raumkonzepten. Statt vom linguistic turn spricht man nun vom spatial turn. Zusammen mit dem Stichwort der Globalisierung schlägt die gegenwärtige Erschließung von Räumen durch neue Medien eine Brücke zurück in das Zeitalter des Barock. Auch damals gab es eine "Raumrevolution": Die von ihr ausgelösten Konflikte zwischen Newtons unveränderbarem Raum und der Fragmentierung von Räumen durch die Kontingenz der Beobachtung waren geprägt von einer Zeit des religiösen und politischen Umbruchs und dem Wissen um die Entdeckung der Neuen Welt. Der Band präsentiert die Ergebnisse des 13. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Barockforschung, der vom 26. bis zum 29. August 2009 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel stattfand. In vier Sektionen gruppieren sich die folgenden Schwerpunkte um den Raum als ein Leitmotiv des Barock: Sektion I: Sakrale und profane Räume im Spannungsverhältnis; - Sektion II: Imaginierte, inszenierte und experimentelle Räume; - Sektion III: Vernetzte und fragmentierte Räume der Gelehrsamkeit; - Sektion IV: Liminale und übersetzte Räume. - Die meisten Beiträge der ersten Sektion konzentrieren sich auf Spannungen zwischen sakralen und profanen Funktionen. Konflikte werden durch Bedeutungsaufladungen von Räumen ausgelöst, deren religiöser Gehalt entweder intensiviert oder entschärft wird. Sektion zwei führt in die Welt der raumbezogenen Imagination, des Experimentierens mit und der Inszenierung von barocken Räumen; Grenzen bauen sich in der Konfrontation zwischen Realem und Imaginiertem auf, werden aber auch wiederum durch Anwendung vielfältiger Medien und Techniken (u.a. der Naturwissenschaft, des Theaters, der Printmedien, der Musik, der Redekunst, der Politik) überbrückt, wie die Beiträge zeigen. Die dritte Sektion führt in die Welt der Gelehrsamkeit, die in Beispielen von Denk-, Lern-, Kommunikations- und wissenschaftlichen Handlungsräumen vorgestellt wird. Hier spielt das Paradigma der sozialen Konstruktion die wichtigste Rolle: Gelehrte Netzwerke und die Repräsentation der Macht der Ordnung werden über eine "Verfügung über den Wissensraum", den Schul- und Universitätsraum, Wissensnetzwerke bzw. das Archiv und die Kunstkammer analysiert, die sich ebenfalls mit dem experimentellen, Grenzen "aufbrechenden" Charakter der Barockkultur verbanden. In mehreren Studien über die Expansionskraft barocker Räume thematisiert Sektion vier - zum Teil aus postkolonialer Perspektive - vor allem die Funktion und Rolle von Grenzen. Die Aufsprengung von Grenzen, eine gewisse chaotische Widerspenstigkeit und Entgrenzung, stellen vielleicht die wichtigste Erbschaft barocker Raumbegrifflichkeit dar, die diese dem nachfolgenden Zeitalter der Aufklärung im Spannungsfeld zwischen der Befreiung von vormodernen Kategorien, aber auch der Auferlegungen von Regelhaftigkeit und starrer Ordnung hinterließ. In den Beiträgen zu dieser Sektion wird die liminale Funktion barocker Räume betont, die zwischen den Raumvorstellungen verschiedener Kulturen vermittelt, über Trennlinien hinweg übersetzt und transferiert, und schließlich - oft in hybriden Neuschöpfungen - Abgrenzungen zu rekonstituieren sucht. Dem Verständnis des Raumes im Barock nähert man sich deshalb am besten von der Grenze her, die, wenn schärfer in den Blick genommen, dem Raum Perspektive gibt. Wenn es auch weder möglich noch wünschenswert erscheint, einen genauen Raumbegriff des Barock festzulegen, so zeigen die Beiträge, dass man dieser Absicht durch ein interdisziplinäres Studium des synästhetischen Erlebnisses barocker Räume am nächsten kommt. - Aus dem Inhalt: Karin Friedrich: Einleitung: Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter. -- Plenarvorträge: Interdisziplinäre Annäherungen an Raumbegriffe des Barockzeitalters: Christophe Duhamelle: Raum, Grenzerfahrung und konfessionelle Identität im Heiligen Römischen Reich im Barockzeitalter. - Peter Davidson: Imagined Baroque Cities. The Earl of Mar and the Chearnley Circle at Birr. - Susanne Rode-Breymann: Eine raumsoziologische Studie zum Musiktheater am Habsburger Kaiserhof. -- Sektion I: Sakrale und profane Räume im Spannungsverhältnis: Andreas Holzem und Beat Kümin: Sakrale und profane Räume im Spannungsverhältnis. Einleitung. - Falk Bretschneider: Spaces of Confinement. Institutional Stabilization and "Eigensinn". The Case of Saxony. - Ilaria Hoppe: Die Räume der Regentin am Hofe der Medici. Profane und sakrale Inszenierungen der Villa Poggio Imperiale unter Maria Magdalena von Osterreich (1621-1628). - Tanya Kevorkian: Space and Movement in Musical Performance During the Baroque Era. - Jan Brademann: Zur Ephemerität von Sakralräumen im Barock. Katholische Kirchhöfe in der ländlichen Gesellschaft des Münsterlandes (16.-18. Jahrhundert). - Laurent Jalabert: Partager l'espace, forger son identite. Les aires de la coexistence confessionnelle au village. L'exemple du comte de Sarrewerden (XVIIe-XVIIIe siècles). - Patrice Veit: Die evangelische "Hauskirche". Ein Zwischenraum? - Jeffrey Chipps Smith: Sculpting Sacred Theatre. Hans Degler and the Basilica of St Ulrich and Afra in Augsburg. - Thierry Favier: Le motet à grand choeur et les mutations de l'espace sacré en France au XVIIIe siècle. - Andreas Gormans: Predigträume als Brückenräume. Bemerkungen zu den Predigtdarstellungen Emanuel de Wittes. -- Sektion II: Imaginierte, inszenierte und experimentelle Räume: Nils Büttner und Ralph Dekoninck: Imaginierte, inszenierte und experimentelle Räume. Einleitung. - Nikola Rossbach: Maschinenräume. Theater und Technik in der Frühen Neuzeit. - Irmgard Scheitler: Die "vierte Dimension". Zur Funktion von Schauspielmusik im 17. Jahrhundert. - Karin Leonhard: Irreversibel. Muschel-und Spiralformen im 17. Jahrhundert. - Rebekka v. Mallinckrodt: Taucherglocken, U-Boote und Aquanauten. Die Erschließung der Meere im 17. Jahrhundert zwischen Utopie und Experiment. - Juliane Howitz: "O wie viel ist es doch das wir nicht wissen!" (De-)Konstruktion kartographischer Himmelsräume in der Frühen Neuzeit. - Michael Neumann: Weltraum. Allegorien der Eroberung und Strategien der Vernunft in Robert Burtons "The Anatomy of Melancholy" und Johannes Keplers "Somnium, Seu OPUS POSTHUMUM DE ASTRONOMIA LUNARI". - Peter-André Alt: Kartographie der Initiation. Hermetische Räume in Johann Valentin Andreaes "Fama Fraternitatis", "Confessio Fraternitatis" und "Chymische Hochzeit" (1614-1616). - Martin Disselkamp: Die Beschreibung als Territorium. Zur "Topographie und Eigentlichen Beschreibung" der Herzogtümer Braunschweig und Lüneburg (1654). - Martin Knoll: Topographien des Sozionaturalen. Siedlung, Territorium und Umwelt in der Historisch-Topographischen Literatur der Frühen Neuzeit. -- Sektion III: Vernetzte und fragmentierte Räume der Gelehrsamkeit: Martin Mulsow: Vernetzte und fragmentierte Räume der Gelehrsamkeit. Einleitung. - Marian Füssel: Der magische Tisch. Soziale Raumbezüge studentischen Lebens der Barockzeit im Spiegel einer Scherzdisputation. - Randolph C. Head: Spaces IN the Archive, Spaces OF the Archive. Material, Topographical and Indexical Articulations of Space in Early Modern Chancery Collections. - Richard Kirwan: Urban Space and Academic Identity in Early Modern Germany. - Flemming Schock: Die imaginäre Kunstkammer. Frühneuzeitliche Sammlungsräume zwischen Materialität und Textualität. - Tilmann Walter: Natur, Religion und Politik. Raumerfahrungen bei dem Arzt und Orientreisenden Leonhard Rauwolf (1535?-1596). - Jean-Luc Le Cam: Vorstellungen und Kontrolle des verwalteten Raums. Das Beispiel des Schulnetzes in den aus Wolfenbüttel regierten Territorien nach dem Dreißigjährigen Krieg. - Hole Rössler: Salmoneus' Blitz in Salomons Haus. Experimentelle Meteorologie und das Denkbild des Raumes in der frühneuzeitlichen Naturphilosophie. -- Sektion IV: Liminale und übersetzte Räume: Ulrike Gleixner und Ulrike Strasser: Liminale und übersetzte Räume. Einleitung. - Dwight E. R. TenHuisen: "Furiously" and "Fanatically" Deleting Francis Xavier, Sacralisation in Mendes Pinto's 'Peregrinação' and its Undoing in the Early Modern "Protestant" Translations. - Stefanie Stockhorst: Geographie mit pendelnden Horizonten. Populäre Wissensvermittlung und "Motivation von außen" in Eberhard Werner Happels 'Der Jnsulanische Mandorell' (1682). - Simon Zeisberg: Der wilde Simplicissimus. Überlegungen zur Poetik des Liminalen im pikaresken Roman. - Barbara Becker-Cantarino: "Neugefundenes Eden"? Raumvorstellungen deutscher Migranten in die englischen Kolonien Nordamerikas um 1700. - Bethany Wiggin: Anti-/Slavery in Translation. Eighteenth-Century Figurations of African Enslavement in the Americas. - Zrinka Blazevic: "Triplex Confinium". Liminal Spaces of Transculturation and Hybridisation in the Early Modern Period. - Jelena Todorovic: The Borrowed spaces. Transgression, Possession and Utopia in the Political Spaces of the Archbishopric of Karlovci. - Isabelle Stauffer: Zwischen Frankreich und Deutschland übersetzen. Landes- und Sprachgrenzen in galanter Literatur. - Stefanie Arend: Spielräume und Netze. Räume des Emblems als Metatexte. Ein Beitrag zur
Gattungsästhetik. - Zwei Bände, zus. 920 Seiten mit 123 Abb., gebunden (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; Band 51/Herzog August Bibliothek in Kommission bei Harrassowitz Verlag 2014) leichte Lagerspuren












