
Guthke, Karl S.: Goethes Weimar und »Die große Öffnung in die weite Welt«
Im Zentrum stehen englische Reisebeschreibungen über Weimar aus der Zeit 1815-1829: Was wurde dem Herzog zum Kauf angeboten, was - unter Goethes Einfluss - davon für Weimar bestellt, was hat Goethe davon gelesen, kommentiert, an Verleger weitervermittelt? - Als deutscher Vermittler englischer Kultur berichtete Johann Christian Hüttner in den Jahren 1815 bis 1829 über englische Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Reisebeschreibungen über Weimar. Die Arbeit zeigt, was Herzog Carl August zum Kauf angeboten wurde, was unter Goethes maßgeblichem Einfluss davon für Weimar bestellt wurde, was Goethe davon gelesen und kommentiert hat, was von Goethe weitervermittelt wurde an den Weimarer Verleger Bertuch zum Zweck der Übersetzung ins Deutsche für die Reihe "Neue Bibliothek der wichtigsten Reisebeschreibungen" sowie an den Verleger Bran für dessen Zeitschriften "Ethnographisches Archiv", "Miscellen aus der neuesten ausländischen Literatur" und "Minerva". Sichtbar wird eine weitreichende und vielgestaltige Vernetzung des Zustroms von Büchern aus England, aber auch englischer Reisender, und damit ein unbekanntes Kapitel jenes »geistigen Handelsverkehrs«, den Goethe Weltliteratur nannte. -- Im ersten Kapitel werden die Vermittlertätigkeit Hüttners und die Weimarer Rezeption des von ihm Vermittelten im Detail nachgewiesen. Dabei richtet sich der Fokus auf ein im Schnittpunkt der ausgehenden Frühen Neuzeit und beginnenden Moderne besonders aktuelles Segment englischer Kultur. Das ist die nach Weimar vermittelte Reiseliteratur in der Art von Expeditions- und Missionsberichten, "Gesandtschafts"-Reports, Reisebeschreibungen, Nachrichten in kolonialen Journalen und (oft tagebuchartigen) Aufzeichnungen oder auch Briefen von Briten, die mit oder ohne Absicht in abgelegene ferne Winkel des weltumspannenden Empire verschlagen worden waren. Sie alle sprechen von der Begegnung mit dem fremden "anderen" in Gestalt von exotischen Völkerschaften. Es handelt sich also um Veröffentlichungen über Landstriche und Bevölkerungen jenseits Europas. Der Einstrom englischer Reisewerke über außereuropäische Weltgegenden ins klassische Weimar (und ins weitere Deutschland durch die von Weimar aus initiierten deutschen Übersetzungen dieser Werke) spielt eine nicht zu übersehende Rolle in einem epochemachenden Vorgang der Bewusstseinserweiterung? Charakteristischerweise will ja in dieser Zeit der schreibende Globetrotter keinen Abenteuerbericht mehr erstatten, sondern eine "philosophische Geschichte der Reise" bieten, die sich vornimmt, "die Natur des Menschen so viel möglich in mehreres Licht zu setzen" (so Georg Forster in der Vorrede zu seiner Reise um die Welt 1778). Vergleichbar ist die im zweiten Teil der Studie untersuchte Rolle der englischen Besucher, die in der selben Zeit nach Weimar strömten und von denen Goethe - aber nicht nur Goethe - sich informieren ließ über die "weite Welt" da draußen jenseits Europas. Denn diese Besucher waren Bürger eines Weltreichs, über dem die Sonne noch über ein Jahrhundert lang nicht untergehen sollte. Und ob sie nun selbst weitergereist waren und, wie in vielen Fällen, von den Enden des Planeten (Australien, Brasilien, Jamaika usw.) in das Weimarer Schloss, das Haus am Frauenplan und andere Kreise der kleinen, aber anspruchsvollen Residenz-Stadt kamen, oder ob sie ihre charakteristische "Weltumsicht", wie Goethe es bewundernd nannte, durch die in London präsente "weite Welt" erworben hatten: was sie alle in das vergleichsweise provinzielle Weimar mitbrachten, war eben jene "Welt", die besonders Goethe überaus zu schätzen wußte, wie aus den von den Besuchern aufgezeichneten Gesprächen hervorgeht. Unter dem Gesichtspunkt der Welt-Erfahrung durch Gespräch und Lektüre fügen sich die beiden Kapitel dieses Buchs zur Geschlossenheit. Sie eröffnen in wechselseitig ergänzender Weise, über die konkrete und detaillierte Dokumentation von "Weltliteratur" in actu hinaus, einen fundamentalen Aspekt der Goethezeit, der kaum vertraut ist. 202 Seiten mit 36 Abb. auf vier Farb- und 28 s/w-Tafeln, gebunden (Wolfenbütteler Forschungen; Band 93/Herzog August Bibliothek in Kommission bei Harrassowitz Verlag 2001)
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